Tourenbericht SAN Piz Morteratsch – mit Alex und Climby


29. August

Freitag abend um fünf Uhr. Während Restdeutschland vor der Entscheidung steht, Sat1 zu gucken oder lieber doch RTL zu schauen, tummeln wir bergverrückten Elf uns an einem lauschigen Schweizer Parkplatz in der Abendsonne. Nicht irgendein Parkplatz, unserer liegt in rund 1.800 Meereshöhe in Morteratsch bei Pontresina, Vorort der Nerz-und-Kaviar-Metropole St. Moritz. Apropos Nerz: Wie sehr doch Klamotten überbewertet werden, bewies Tourleiter Alex von Anfang an und gekonnt lässig: Er bestritt die gesamte Drei-Tages-Tour in Stretchhose, T-Shirt und Kurzjacke. Da hat doch einer mal den Ausdruck „Packlite“ beim Wort genommen (Sorry, Alex, das konnt’ ich mir jetzt nicht verkneifen). Nun gut, wir anderen schleppen unsere Mindestens-Zehn-Kilo- Rucksäcke bergan, und das sogar gerne: Die Aussicht auf die ewig lange Zunge des Morteratsch-Gletschers zur Linken, auf das Palü-Massiv und auf lichte Arven – und Lärchenwälder zur rechten war Doping genug!

Eineinhalb Stunden später setzt eine scharfe Rechtskurve der Andacht ein Ende: Ganz unvermittelt treffen wir auf der Bovalhütte auf 2.495 Meter Höhe ein. Wir müssen uns sputen, denn die bereits versammelten Gipfelanwärter aus aller Herren Länder warten bereits mit dem Abendessen auf: die unpünktlichen Deutschen! Danach schenkt uns Alex erst mal reinen Wein - bezüglich Tourenplanung - ein: Frühstück gibt’s am nächsten Tag um Punkt vier Uhr, um fünf Uhr: Treffpunkt vor der Hütte, gesattelt, gespornt und abreisebereit! Heißt übersetzt: Den Wecker auf drei vor vier Uhr stellen, im Halbdunkel der etwas funzeligen Beleuchtung Alles-was-so-rumliegt in den Rucksack stopfen. Und dann – ganz wichtig! – die Decken streng nach Fotoanleitung an der Wand zusammenfalten. OK, Alex, wir sind ja nicht zum Spaß hier.

30. August

Kurz nach Mitternacht (gefühlte Zeit) klingelt der Wecker. Und dann – o Wunder: Bereits um viertel vor Fünf warten neunzig Prozent der Crew erwartungsvoll nebst fertig gepacktem Rückenballast (und ikebana-mäßig hinterlassenen Decken im Lager) im Stockdunklen vor Hütte. Wie Glühwürmchen-Züge sehen wir bereits Truppen Richtung Piz Palü oder Biancograt aufsteigen. Ein fantastischer Moment. „Boah, die da drüben sind aber schon weit oben!“, tönt es da aus unserer Gruppe ehrfürchtig. „Mann, das ist keine Mannschaft, das sind doch die Sterne!“, so die entrüstete Antwort. Für manche ist es einfach noch zu früh am Morgen. Was ein Grund ist, aber kein Hindernis: Los geht es und wir marschieren äußerst konzentriert rund eine Stunde über losen Schotter und aufsässiges Geröll, schemenhaft beleuchtet vom tanzenden Lichtkegel unserer Stirnlampen. Keiner spricht. Im Dunklen und im beinah unwegsamen Gelände wird Gehen zu einer alle Sinne beanspruchenden Tätigkeit.

Als langsam ein erster grünlicher Schimmer über den fernen, gezackten Horizont steigt, halten wir inne. Wie oft erlebt man einen solchen Moment hoch oben in den Bergen? Manche selten bis nie. Wir rasten – und rüsten auch gleich auf: legen Klettergurte und Helme an, denn nun beginnt der Aufstieg über felsige Passagen bis Stufen II hinauf zur Fuorcla da Boval.

Sowohl Alex als auch Co-Guide Climby staunen: Für zehn Leute sind wir erstaunlich fix. Dafür gibt’s auch eine Extra-Pause, oben auf 3.350 Meter Höhe und vor den malerischen Zacken der Boval-Scharte. Und während wir Sonne tanken, die Steigeisen anlegen und entspannt die Camera zücken, läuft Alex wie ein Gecko die Felsen rauf und runter, von Mann zu Frau zu Mann, um den Sitz der Steigeisen aufs Detail zu prüfen.

Denn nun geht es auf die schattige Rückseite der Scharte und mit einem Schlag ändert sich der Charakter der Tour: Wir stehen auf verharschtem Firn, unter uns windet sich der Vadrettin da Tschierva ins Tal und zur Linken rückt das Ziel ins Blickfeld: Die in der hellen Morgensonne glänzenden Abbrüche und Schneehänge des Piz Morteratsch, gekrönt von einer sanften Kuppel. Doch erst mal binden wir uns ins Seil, lassen die Felsen hinter uns und steigen über eine beinhart gefrorene Rampe aus Blankeis, durchsetzt von Steinen und Altfirn, zackig bergauf. Zur Sicherheit setzt Alex ein, zwei Eisschreiben in den widerspenstigen Untergrund. Nach dieser Passage entspannt sich die Lage: Nun geht es auf einer Art Highway (wir sind eindeutig nicht die ersten am Berg) in Serpentinen hinan. Beeindruckend klaffende Spalten rechts und links machen klar: Auch diese Hänge führen ihr geheimes, „unterirdisches“ Eigenleben. Kehre um Kehre geht es hinauf, kein Ende ist absehbar, wieder einmal entzieht sich das Ziel unseren Blicken, bis wir dann schließlich doch oben stehen, auf 3.751 Meter – mit einem Schlag öffnet sich das gesamte Panorama der Bernina – während frontal gegenüber der Biancograt die Bildmitte dominiert, wahrhaft „bigger than life“ und besser als auf allen Print-Abbildungen!

Wie besoffen von der berauschenden Aussicht starren wir über eine Stunde auf die berühmte Firnschneide, auf der natürlich auch heute die Piz Bernina-Anwärter aufwärts streben. Das Flappergeräusch eines Rega-Helikopters stört unsere Gedanken: Immer wieder fliegt der rote Hubschrauber die Wände seitlich des Grates ab. „Seit zwei Wochen werden zwei Schweizer Alpinisten in der Bernina vermisst, die von der Tschierva Hütte aufgestiegen sind“, erzählt ein Bergführer aus dem nahen Samedan, der mit uns am Gipfel sitzt. Schließlich peilt der Helikopter direkt die Spitze des Piz Bernina an und transportiert zwei Mal hintereinander Personen per Tragegestell ins Tal – vermutlich sind es nicht die Vermissten, sondern „neu“ Verunglückte. Das holt uns in die Realität zurück und wir sammeln uns zum Abstieg.

Bis zur Scharte gehen wir größtenteils und - wie gehabt in zwei Seilschaften - in der Aufstiegsspur zurück. Während der Firn unter unseren Füssen wie frisch im Backofen schmelzender Eiweißschnee glänzt, erscheinen die nördlichen Bergketten in einheitlich stumpfen Brauntönen, ein ausdrucksvoller Kontrast. Schnell sind wir unterhalb der Scharte angekommen und nun beginnt der Abstieg über den flacher verlaufenden Vadrettin da Tschierva, der sich hier in die Kurve legt und oberhalb der Hütte gleichen Namens ausläuft. Während wir konzentriert über unzählige Querrisse im Blankeis steigen, sticht Alex zum seitlichen Gletscherrand hinüber, wo er ein ungewöhnliches, goldglänzendes Objekt zwischen den Felsbrocken entdeckt hat. „Das glaubt ihr jetzt nicht, was das war – ein Faltboot mitten auf dem Gletscher!“, erzählt er ein paar Minuten später. Während wir uns die passende Geschichte zum gestrandeten Bootswrack in rund 3.000 Meter Höhe ausdenken, haben wir auch schon die unteren Ausläufer des Eises erreicht und wechseln hinüber ins Geröll. Nach einer weiteren Stunde über steil abfallenden Bernina-Granit taucht (wieder einmal auf den letzen Drücker!) die Tschierva-Hütte mit ihrer einladend ausladenden Sonnenterrasse vor uns auf.

Bereits ein gepflegtes Panaché (Radler) später fangen Climby und Alex an, mit schmalen Indianeraugen das Etappenziel des kommenden Tages namens zu fixieren. Den Piz Umur kann man sich als eine Art granitgewordene Haifischflosse vorstellen, die inmitten aus einer Gischt völlig zerklüftet-zerfurchter Gletscherabbrüchen fast senkrecht nach oben ragt. „Is ois ned so tragisch, der schaut bloss vo hier so grantig aus!“, will Climby uns weismachen. ‚Na schau mer mal, dann seng’ ma’s scho!’ denken wir uns, holen uns erst mal ein zweites oder drittes Panaché, bevor einer nach dem anderen gähnend und schon recht früh im SAN-Gruppentrakt im modern gestylten Anbau des Hauses verschwindet.

31. August

Am nächsten Morgen sitzen alle putzmunter um halb acht im Frühstücksraum, bei Bircher Müsli, echtem Kaffee usw. Inzwischen eingespielt, brechen wir bald darauf auf, den Umur mal näher ins Auge zu fassen. Parallel zum Tschierva-Gletscher geht’s steil über Felsbänke hinauf, ein wirklicher Weg hinüber zum Umur-Ungetüm zeichnet sich jedoch nicht ab; Steinrutsche haben in den letzten Jahren die Route verschüttet oder zu sehr verändert. Da der Umweg, den wir Kauf nehmen müssten, zeitlich schwer kalkulierbar ist, müssen wir eine Entscheidung fällen: Weiter auf gut Glück im Fels rumkraxeln, um dann letztendlich vielleicht doch feststellen zu müssen, dass die Route über den völlig zercrashten Gletscher nicht machbar ist. Oder absteigen und auf der unteren, wesentlich überschaubareren Eiszunge Spaltenbergung und Eisklettern zu üben. Letzteres wird umgesetzt, und zwischen einigen ganz ordentlichen Spalten demonstriert Climby die Bergung über „Lose Rolle“ und „Schweizer Flaschenzug“, während andere sich am Rand einer Spalte zu Alex hinablassen, um mit Eisgeräten sogleich wieder hinauf zu pixeln.

So hat jeder sein Plaisir, bis schließlich die Zeit zum Abmarsch drängt, schließlich wollen wir doch den georderten Pferdeomnibus an den Roseg-Gasthöfen um drei Uhr erwischen. Noch einmal geht’s an der Tschierva-Hütte vorbei und dann ziemlich flott ins flacher werdende Tal. Nach zwei Tagen in Schnee und Eis kommen uns die Wiesen plötzlich viel grüner, praller, fetter vor. Wie die Sache ausgegangen ist? Ja, wir haben die Höfe pünktlich erreicht, uns alle zusammen in eine Kutsche gepfercht und sind zweispännig talwärts nach Pontresina hinaus gefahren – was trotz zwei PS immerhin eine Stunde dauert, ein Hatscher, den wir uns gern geschenkt haben. Ein etwas ruhmloser Abgang vielleicht hinsichtlich der beiden haferfressenden Abstiegshilfen, aber natürlich ein umso schönerer!!!!

Hier noch mal: vielen Dank an Alex und Climby für die entspannte und komplett rundum gelungene Tour in einem der spektakulärsten Gebirge der Alpen! Ein Merci auch an Climby’s Freundin Steffi, die aufgrund von „Extra-Gepäck“ nicht die gesamte Tour mitgehen konnte J .....sie hat uns bis zur Bovalhütte begleitet und am nächsten Tag an der Tschierva wieder abgeholt.....war schön mit Euch! Lassen wir Anden-Alpinist Climby den Schlussatz. Wie sagte er doch: „Der Tour rauf zum Morteratsch war der bisher schönste Tag des ganzen Sommers!“

Text&Bilder : Luise Trenker


zur Hauptseite


Copyright (c) 2008 Sektion Alpen.Net