„Wenn man sich die Berge mal wegdenkt, sind die Alpen eine stinklangweilige Angelegenheit“ Gerald Drews

Aconcagua im Februar 2004
von Helmut (Mc)Meisel


Das Jahr 2004 geht seinem Ende entgegen, ich habe Aberdeen den Rücken gekehrt und will mich den angenehmen Seiten des Bergsports widmen, als mich folgendes Mail an meinen halbfertigen Expeditionsbericht erinnert:

 

Dear Helmut,

Just a few lines to let you know that I am still alive, if not exactly kicking... <snip> ... I am working on a strategy in order to finish studies, get a
job, climb mountains and have a happy life... <snip> ...If I had a bit of money I would come by and have a sip of the local brew. But we
will have to see to that on another occasion. Have you got any interesting projects coming up after putting a man on top of the
Western Hemisphere?
 
Ronnie


Ich sitze an meinem Schreibtisch und lasse meine Gedanken 10 Monate zurück schweifen. Damals, genauer gesagt am Sonntag, den 15.02.04 um 15:40 Uhr standen wir beide oben.  Mit Kopfschmerzen, rasendem Puls, unsere Körper saugten gierig die dünnen Höhenluft ein obwohl unsere Rachen von der eisigen Kälte der letzten Tage bereits schmerzhaft entzündet waren. Aber all das war nicht wichtig! Wir hatten ihn erreicht: den Cerro Aconcagua, 32° 39.217' Süd und 70° 00.750' West, 6962 Meter hoch – den höchsten Punkt des amerikanischen Kontinents und den zweithöchsten Gipfel der Seven Summits. Und so hoch wie sein Gipfel, so stolz sind Argentinier auf „ihren“ Berg: selbst in Buenos Aires haben mir öfter Leute für seine Besteigung einen Drink spendiert…

 




Aconcagua beim Flug nach Chile

Aconcagua beim Anmarsch zum Basislager

Horcones Brücke mit Aconcagua

 

Unzählige Routen führen auf den Aconcagua. Ich habe wie die meisten Leute die Normalroute an der Nordwestflanke gewählt. Meine Befürchtungen bezüglich des Menschenandranges haben sich aber nicht bestätigt: im Gegenteil, ich war sogar oft ganz alleine. Die Normalroute auf den Aconcagua besteht aus einem mehrtägigen Trekking zum 4200m hoch gelegenem Basislager „Plaza de Mulas“ und einigen Hochlagern, die normalerweise im Expeditionsstiel eingerichtet werden. Sie wird alpintechnisch als leicht eingestuft – wegen der großen Höhe und den extremen Witterungsbedingungen erfordert sie jedoch eine gute Kondition, die entsprechende Ausrüstung und vor allem eine gute Höhenakklimatisation. Natürlich muss auch das Wetter mitspielen, denn die plötzlich hereinbrechenden, tagelang anhaltenden Höhenstürme – genannt Vientos Blancos – sind gefürchtet. Von den etwa 5000 Bergsteigern, die sich alljährlich zwischen Mitte November und Mitte März am Aconcagua versuchen, erreichen nur 30-40 % den Gipfel. Die meisten Leute scheitern wegen der Höhe und/oder der extremen Kälte am Gipfeltag; vor allem die Canaletta, ein 300m relativ steiler Anstieg kurz vor dem Gipfel, zwingt viele Leute zur Umkehr.

Meine Besteigung hat deutlich weniger Zeit in Anspruch genommen als ich ursprünglich geplant hatte. Die Strategie war, ziemlich bald den ersten Gipfelversuch zu wagen und mich bei einem Fehlschlag im Camp „Nido de Condores“ auf 5.300 m zu erholen. Allerdings hat mein erster Versuch bereits geklappt und so konnte ich noch einige Tage argentinische Steaks, Mozarella und Wein in Mendoza genießen! Der genaue Ablauf meiner Tour ergibt sich aus dem Höhenprofil.

Schematisches Höhenprofil (große Punkte markieren die Schlafhöhe)

 

Die folgenden Abschnitte beschreiben meine Erfahrungen am Aconcagua in den einzelnen Etappen.

Prolog

Beim Bergsteigen wird man – fast schon wie im richtigen Leben – bekanntlich aus Erfahrung klug! Vor drei Jahren stand ich am Fuße des Elbrus in einem zum Kramerladen umgebauten Eisenbahnwagon und habe mit meinen Händen alle gemeinhin als essbar geltenden Tiere gemimt. Ziel dieser Aktion war den Inhalt der kyrillisch beschrifteten Dosen zu entschlüsseln, um eine „abwechslungsreiche“ und vor allem genießbare Verpflegung zusammenzustellen. Diese Mühe war leider vergebens und der Magen meines Partners Phil machte bereits nach den ersten Tagen überstunden. Ich selbst habe mir nach dem Verzehr einer rotbräunlichen Masse, die ich als verendeten Baikalsee-Thunfisch in georgischer Tomatenstrauchsauce mit Rohöl bezeichnen würde, geschworen den Grossteil des Essens für die nächste Expedition von zu Hause mitzubringen!¹

Zusätzlich nehme ich wirklich wichtige Ausrüstungsgegenstände (z.B. Sonnenbrille, Kocher, etc.) doppelt mit: am Flughafen in Aberdeen habe ich deshalb vier Taschen mit 62 kg Gesamtgewicht und somit genau 38 kg Übergepäck. Im Geiste gehe ich nochmals die Ausrüstungsliste durch während die nette Dame am Serviceschalter den Computer den Zuschlag berechnen lässt. „Good luck with your climb“ lächelt sie und teilt mir mit, dass der Computer irgendwie zweideutige Ergebnisse liefert, und ich somit – ausnahmsweise – ohne Zuzahlung mein Gepäck aufgeben kann. An alle, die wie ich dachten, das sei mit ein par Euro pro Kilo getan: eigentlich hätte mir die gute Frau pro kg 20 U$ abknöpfen müssen …!!! Also, an dieser Stelle noch einmal ein dickes Danke!!! Den Rücktransport meiner Ausrüstung habe ich übrigens für 5 U$ pro kg mit der chilenischen Post erledigt.

Santiago de Chile

Beim Flug nach Santiago de Chile sehe ich das erste Mal den Aconcagua wie er sich schneebedeckt aus dem gleichmäßigen Braun der Andenschluchten erhebt. Gut sieht er aus! Wie weit ich wohl kommen werde? Ich bin alleine unterwegs und werde nichts riskieren: der Gipfel ist optional – wichtig ist gesund und vor allem mit allen Gliedmaßen zurückzukommen! Doch bevor ich meinen Versuch wagen kann, muss ich noch einiges erledigen: ich benötige ein Permit, muss mir ein Maultier für den Transport meiner Ausrüstung ins Basislager besorgen und habe meine Ausrüstung auch noch gar nicht sicher zum Berg gebracht – wenn eine Tasche verloren geht bedeutet das wahrscheinlich das Aus…

Doch zuallererst gilt es eine Grenze zu überwinden. Bei der Einreise nach Chile muss man schriftlich versichern, dass man keinerlei pflanzliche oder tierische Produkte mit sich führt. Na gut, Kleidung darf man ja auch behalten, also können meine organischen Müsliriegel damit nicht gemeint sein! Außerdem hatte ich auch keinerlei Bedürfnis, die Familie eines Zöllners mit kostenlosem Essen zu beglücken… Schon ein unbeschreibliches Feeling, wenn man seine Fertiggerichte – ganz heimlich und unerkannt – wie Drogen oder Falschgeld über die Grenze „schmuggeln“ muss: I am a little bit of a rebel, you know!!!

Santiago de Chile selbst ist schon ganz „nätt“ aber hat mich ehrlich gesagt nicht so richtig vom Hocker gerissen – vor allem weil ich am Dienstag (!!!) fast vergeblich nach dem Nachtleben suchen musste. Übrigens: Das deutsche Synoym für Disco „Nightclub“ bezeichnet in Santiago de Chile ausnahmslos Bordelle während man sich in einer Discoteca oder Salsoteca ganz anständig amüsieren kann… Da ich nicht wirklich auf der Suche nach kommerziellem Nacktleben war, fand ich es schon ziemlich störend, dass ich als alleinreisender Herrn in meinem besten Jahren alle 10 Meter von einem dubiosen „Nightclub-Anwerber“ schräg von der Seite mit dem immergleichen „No te gustan chicas?!?“-Humor belabert wurde. Pauschal gesagt san des fei alles ganz schee aufdringliche G’ringosmid eanane Gspusis, eanane g’wamperten… oder etwas differenzierter ausgedrückt sind 90% zu 100% Deppen²! Im Vergleich dazu gibt es in Buenos Aires Ausgehviertel wie Palermo Viejo, Little Hollywood und Las Canitas in denen vom Live Blues bis zum hippen Trance-Schuppen alles geboten ist – und vor allem ist sieben Tage die Woche was los! Eine sehr schlechte Entscheidung, mich nicht in Buenos Aires auf die temporäre Entsagung der zivilisatorischen Errungenschaften vorzubereiten…

Puente del Inca, Permit in Mendoza und Mulis

Der Ausgangspunkt für den Aconcagua ist Puente del Inca auf 2.700 Meter – ein kleines argentinisches Andendorf mit einer Kaserne, zwei Restaurants, einem Hostel, Souvenirstände und einen kleinen Kramerladen. Touristen kommen hierher um die imposante Naturbrücke, die bis vor wenigen Jahren noch mit Autos befahren wurde, zu besichtigen oder um in den heißen Quellen neben der Kapelle ein Bad zu nehmen. Man erreicht Puente del Inca entweder in 5 Busstunden von Santiago de Chile oder in 4 Busstunden von der argentinischen Weinstadt Mendoza. Selbstverständlich kann man hier alle erdenklichen Dienstleistungen für eine Aconcaguabesteigung erwerben: Verpflegung in den Camps, Bergführer, Träger für die Hochlager, u.s.w. Weitaus am wichtigsten ist aber der Transport von Ausrüstung in die Basislager mit einem Maultier und der Betrieb von Toiletten in den Basislagern.

Seit der argentinischen Währungskrise haben sich die Reiseströme zwischen Argentinien und Chile umgekehrt. Argentinier fahren zum Arbeiten nach Chile und chilenische Touristen in der entgegengesetzten Richtung in den Urlaub. So verkehren mehrmals täglich Busse zwischen Mendoza in Argentinien und Santiago de Chile. Zwar gibt es keine direkte Busverbindung zwischen Santiago de Chile und Puente del Inca, aber man kann ein Ticket bis Mendoza lösen und nach der halben Fahrstrecke aussteigen. Am Busbahnhof in Santiago de Chile herrscht Hochbetrieb und mein Taxifahrer legt mir noch einmal ans Herz, ich solle hier auf meine Habseligkeiten ganz besonders gut aufpassen… Es wäre mit Sicherheit einfacher gewesen, einen Tag vorher das Ticket zu besorgen anstatt schwer beladen mit vier Taschen im Gedränge von Busgesellschaft zu Busgesellschaft zu laufen. Gott sei Dank bietet sich ein netter Herr an gegen ein kleines Trinkgeld die Rennerei für mich zu besorgen...

Nach ca. 4 Stunden Fahrt erreichen wir die Grenze zu Argentinien und ich erlebe eine Filzorgie, die selbst leidenschaftliche Anhänger der Rasterfahndung vor Neid hätten erblassen lassen: das gesamte Gepäck des Busses wird ausgeladen – ohne Ausnahme! Zusätzlich müssen alle Passagiere, selbst Frauen und Kinder, mit ihrem Handgepäck aussteigen und sich in Reih und Glied aufstellen: wie in Chile geht es um, „illegal“ eingeführte Nahrungsmittel. Die Grenzer gehen tatsächlich das Handgepäck durch und lassen einige Koffer öffnen. Auch ich werde zu meinen Taschen gerufen und überlege schon, ob ich überhaupt einen ganz cleanen Koffer dabei habe – Gott sei Dank wollen die Grenzer nur seine Herkunft klären… So betrete ich als glücklicher Besitzer meiner geliebten Müsliriegel Argentinien!!! Ich erzähle meinen chilenischen Reisebegleitern noch, dass wir in Europa praktisch keine Grenzkontrollen mehr haben, und sie stimmen alle mit mir überein, dass das schon eine prima Sache ist…




Busbahnhof in Santiago de Chile

Rasterman vibrations


Rudy Parra

Kurz nach der Grenze erreicht der Bus Puente del Inca. Ich steige 1 km hinter dem Dorf beim Cemeterio de las Andinistas aus und gehe zur Ranch von Rudy Parra. Er ist ein bekannter Logistikdienstleister und betreibt einen kleinen Campingplatz, auf dem man, auch wenn man seine Dienste nicht in Anspruch nimmt, umsonst Zelten kann. Genauer gesagt handelt es sich um eine Wiese mit einem Kioskhäuschen: eine Dusche gibt es leider nicht, dafür aber Toiletten, fließend Wasser und eine schöne Aussicht auf die umliegenden Berge. Der Kiosk war wohl mangels Kunden (meistens war ich alleine) nie geöffnet, aber ein Essensraum und Gartenmöbel machen den Aufenthalt sehr angenehm; ganz zu schweigen von seinen freundlichen Mitarbeitern – allen voran Horacio, den Manager.

 


Naturbruecke in Puente del Inca

 

Puente del Inca

Hosteria in Puente del Inca

Ich schlage mein Zelt auf und gehe zum Wirtschaftsgebäude um ein Maultier und etwas Kochbenzin zu organisieren. Ein Muli kostet bei Rudy Parra 100 U$ für einen Weg und kann bis zu 60 kg tragen – folglich werden 200 U$ für den Roundtrip fällig. Die Benutzung der Toiletten im Basislager ist in diesem Preis eingeschlossen.  Bei anderen Anbietern (oder Schmugglern) sind Maultiertransporte zum Teil deutlich billiger, weil sie pro kg abrechnen und für den Rücktransport von Gepäck weniger verlangen. Ich habe mich aber trotzdem für Rudy entschieden, weil er genügend Mulis hat, um ihnen nach einem Arbeitstag einige Rasttage zu ermöglichen. Das beruhigt nicht nur mein Gewissen sondern auch meine Nerven, weil dadurch weniger Mulis abstürzen  -> Ausrüstung... Rudy Parra bietet seinen Kunden auch an, Gepäck in einem abgeschlossenen Raum zu deponieren – nur er und sein Manager Horacio haben den Schlüssel

Es ist schon dunkel, als ich auf meinem surrenden Benzinkocher das Abendessen koche. Horacio, der Manager von Rudy Parra, leistet mir Gesellschaft. Wir reden über seine „Chicas“ (Mulies), die endlosen Bergtourenmöglichkeiten in der Region und natürlich über die nächste Fußball-WM in Deutschland. Ich frage Horacio, ob er selbst auf dem Aconcagua war. Stolz nennt er das genaue Datum seines Gipfelerfolges und mir wird klar: der Aconcagua zählt was in Argentinien! Horacio lädt mich ein, nach dem Ende der Bergsteigersaison mit ihm nach Mendoza zur Feier der Weinlese zu kommen. Leider bin ich zu dieser Zeit nicht mehr in Argentinien: nachdem ich aber ein „kleines“ (eigentlich war es auch schon richtig groß) Weinfest in Mendoza miterlebt habe kann ich das nur wärmstens empfehlen!


 

Rudy Parra's Terrasse

 

Rudy Parra's "Zeltplazt"

Rudy Parra's "Chicas"

Für die Besteigung des Aconcagua benötigt man ein Permit, das 200 U$ kostet. Jeder Teilnehmer einer Expedition muss dazu persönlich in Mendoza bei der Parkverwaltung vorstellig werden. Horacio meint, dass ich mit etwas Glück und Taxis an einem einzigen Tag nach Mendoza und wieder zurück nach Puente del Inca fahren kann. Da Puente del Inca viel höher liegt als Mendoza möchte ich wegen der Akklimatisation eine Nacht im Flachland vermeiden! Deshalb nehme ich am nächsten Tag gleich den ersten Bus um 11 Uhr; nach 4 Stunden Fahrt springe ich in Mendoza in ein Taxi, lasse mich zur Parkverwaltung fahren und bitte den Fahrer draußen zu warten. Das Ausstellen des Permits ist reine Formsache – nur die Fragen nach der Person, die im Todesfall benachrichtigt werden soll und die Adresse der Versicherung sind etwas makaber… Ich schließe alle Formalitäten ab und schaffe gerade noch den letzten Bus nach Puente del Inca.

Akklimatisationstour in Las Cuevas (3.200m - 4.200m)

15 km von Puente del Inca entfernt, in dem kleinen Andendorf Las Cuevas, bietet sich ein weiteres Touristenmagnet für eine Akklimatisationstour an: am Ortsende führt eine Strasse über 8 km zum 1000 Meter höher gelegenem Denkmal „Christus el Redentor“.  Es wurde auf der Grenze zwischen Argentinien und Chile errichtet nachdem Landstreitigkeiten zwischen beiden Ländern friedlich gelöst werden konnten. Von Puente del Inca gibt es einen Bus in dieses Dorf, der nach 5 Stunden Wartezeit auch wieder zurück fährt. Meine Laune ist ausgezeichnet als ich mich mit 5 Litern Wasser gemütlich auf den Weg entlang der menschenleeren Strasse mache.


Las Cuevas

Er lies sich nicht zu einem Spaziergang bewegen…

Der Weg zum Denkmal

Das Thermometer zeigt 28°C, als ich nach einiger Zeit an einer Gruppe Bauarbeiter vorbeikomme. Sie können absolut nicht verstehen, wie man bei dieser Hitze freiwillig zu Fuß laufen kann. "Esta bien!" bekomme ich zu hören als ich ihnen erkläre, dass das meine Eingehtour für den Aconcagua ist. Das muss man wohl so interpretieren: "Ach so, jetzt laufen die durchgeknallten Gringos schon bei der größten Hitze mitten in der Pampa rum…" Im laufe der Zeit wandelt sich die einsame Bergstraße in eine vielbefahrene Piste. Immer mehr Touristen fahren mit dem Auto an mir vorbei. Fast jeder bleibt stehen und bietet mir eine Mitfahrgelegenheit an. Natürlich lehne ich dankend ab und komme auch so nach 2,5 Stunden oben am Denkmal an.

 


Zum Ersten: Christo el Retendor

Zum Zweiten: Kapelle in Las Cuevas

 

Zum Dritten: „Notunterkunft“

Nach einem kurzen Aufenthalt steige ich wieder ins Tal ab, um den Bus nach Puente del Inca zu erreichen. Las Cuevas selbst hat noch zwei Sehenswürdigkeiten mehr zu bieten: eine ziemlich fotogene Kapelle und eine Notunterkunft, die von dem Iren Bernado O’Higgins – seines Zeichens „Libertador“ von Chile und General der Andenarmee – errichtet wurde. Gar nicht so schlecht für ein Andendorf mit deutlich weniger als 50 Einwohner! Zufrieden steige ich in den Bus nach Puente del Inca. Der Tag hat sich voll gelohnt, ich bin locker hoch gekommen und habe mich auf 4.200 m immer noch relativ gut gefühlt…

1. Tag: Parkeingang (2.900m) - Confluencia Camp (3.350m)

Am dritten Tag in Puente del Inca ist es endlich so weit: heute, am Freitag, den 6.2.04, soll es endlich losgehen! Ich habe drei Taschen mit insgesamt 43 kg für den Maultiertransport vorbereitet und werde selbst einen Rucksack mit 23 kg tragen. Die Maultiere gehen den Weg zum Plaza de Mulas an einem einzigen Tag während ich zur Akklimatisation noch eine Nacht im Camp Confluencia verbringen werde. Manch Leute nehmen bedeutend weniger Gepäck auf ihre eigenen Schultern und hoffen auf gutes Wetter während des Aufstieges. Ich habe aber von einigen Leuten gehört, die sich – vom Schneesturm überrascht – eine Lungenentzündung zugezogen haben. Meinen Versuch stelle ich mir da etwas anders vor: über das Basislager hinaus würde ich nämlich schon gerne kommen...

Horacio fährt mich 5 km von Puente del Inca zum Parkeingang: "Good Luck the summit!" ruft er mir hinterher, als ich mich um 16.30 auf den Weg zur Ranger-Station mache. Dort werden mein Permit überprüft, meine Personalien werden festgehalten und ich bekommen meinen persönlichen Müllsack ausgehändigt, den ich beim Verlassen des Parks gefüllt wieder abgeben muss. "The most expensive plastic bag in the world!" scherzt der Ranger als er mich auf die 100 U$ Strafe bei Nichtbefolgung hinweist. Nach fünf Minuten bin ich endlich unterwegs in Richtung Camp Confluencia. Diese Etappe führt 8 km entlang dem Horcones-Fluss direkt auf den Aconcagua zu: während des Marsches habe ich ständig seine schneebedeckten Gipfel im Blick – er sieht ganz schön mächtig aus von hier unten! Bis zu seinem höchsten Punkt fehlen noch ca. 4000 Höhenmeter und 5 Lager…

 

Aconcagua

 

Maultiere bei der Arbeit

Confluencia Camp (3350m)

Nach zwei gemütlichen Stunden Aufstieg bin ich kurz vor Confluencia. Auf den letzten Metern werde ich von einem andern Bergsteiger eingeholt: Ronnie aus Dänemark – er hat zuvor ein halbes Jahr in La Paz auf 4000 Meter gewohnt und ist natürlich dementsprechend gut akklimatisiert! Es gib auch noch einen zweiten Grund für seine Eile: ein Magenvirus zwingt ihn, schnellstmöglich die nächsten Toilette aufzusuchen… Nach kurzem Bergsteigersmalltalk erreichten wir auch schon das Camp und melden uns bei der Rangerin an.

Da ich mein Zelt mit den Mulis zum Basislager hochgeschickt habe, verbringe ich diese Nacht unter freiem Sternenhimmel im Biwaksack. Allerdings gäbe es auch ein großes Domzelt, in dem man für 10 U$ auf Feldbetten übernachten kann – die gleiche Firma verkauft auch Getränke und Essen. Die Ranger des Camps kümmern sich um die Toiletten, die in Punkto Sauberkeit leicht mit der eines Bahnhofsklos mithalten können – alle Achtung! Außerdem gibt es eine Wasserleitung, die sauberes Trinkwasser an den Rand des Camps bringt. Das Horconeswasser ist nämlich zu schlammig zum Trinken.

2. Tag: Confluencia Camp (3.350m) - Plaza de Mulas (4.200m)

Viele Leute akklimatisieren sich zwei Nächte im Confluencia Camp und nutzten den zusätzlichen Tag für einen Ausflug zum Plaza Francia (4200m). Ich möchte sofort weiter zum Plaza de Mulas und breche nach einer gehörigen Portion Fertignudeln (was sonst?!?) auf. Heute wird mich mein Weg wiederum über 24 km durch das Horconestal führen. Leider gibt es auch auf dieser Etappe keine Möglichkeit Wasser nachzufüllen, sodass ich 5 Liter mitnehmen muss. Es sind einige Leute unterwegs, die sich allerdings schnell in den Weiten des Tales verlieren.



Biwak in Confluencia

Hinter Confluencia

Eingang zum Horconestal

Das Thermometer steigt im Laufe des Tages auf über 30°C, wobei der relativ starke Wind die Temperatur deutlich niedriger erscheinen lässt. Nach ca. 6,5 Stunden erreiche ich Camp Ibanez (3.850m), das offensichtlich nicht von sehr vielen Leuten benutzt wird. Nur zwei Quadrate sind zum Teil von Steinmauern eingeschlossen. Beide davon sind leer. Unterwegs treffe ich wieder auf Ronnie, der gerade einigen argentinischen Mädels bei einer Flussüberquerung hilft. „This argentinian accent just melts me!“ strahlt er – seinen Magen scheint es heute besser zu gehen ;-)

Kurz hinter dem Camp Ibanez verlässt der Weg das Flusstal und nimmt etwas mehr Steigung an. Ich spüre die Höhe immer deutlicher und mein Atem und Puls werden schneller. Nach 1,5 Stunden komme ich endlich am Plaza de Mulas an: ehrlich gesagt will ich mich am liebsten sofort im Zelt verkriechen... aber das habe ich ja noch nicht mal aufgebaut… Vorher muss ich mich noch beim Ranger anmelden und mein Gepäck von Rudy Parras Logistikzelt abholen. Der Ranger händigt mir einen "Shitbag" aus, der dazu gedacht ist, dass die Hochlager nicht mit „human remains“ verseucht werden. Genau wie den Müllsack muss man ihn bei Strafandrohung von 100 U$ wieder abgeben.

Piedra Grande

Mittagessen im Windschatten auf 4000 m

1 km hinter Camp Ibanez

Es ist schon relativ spät, als ich mich an den Zeltaufbau machen kann. Meine Nachbarn Rodriguez und Chango aus Buenos Aires unterhalten mich während ich mein Zelt gegen Sturmböen sichere. Chango ist bereits das 5. Mal am Aconcagua und hofft, dieses Mal den Gipfel zu bezwingen. Rodriguez ist nur zum Trekken hier und wird in einigen Tagen wieder absteigen. Nach einem kleinen Abendessen verkrieche ich mich sofort in den Schlafsack  – die Höhe macht sich jetzt deutlich bemerkbar. Kein Wunder: das Barometer zeigt 602 mBar während meine Lungen in Aberdeen auf Meereshöhe permanent mit einem Luftdruck um die 1000 mBar „verhätschelt“ wurden…

3. - 5. Tag: Plaza de Mulas (4.200m), Colle Bonete (5000m) und Transport von Material ins Camp Canada (4.900m)

Am Morgen fühle ich mich etwas besser, habe allerdings ziemlich schlecht geschlafen, weil die Luft aus meiner Isomatte entwichen ist… Naja, für solche Sachen hat man ja als Basecamptiger unendlich viel Zeit! Zuerst ist aber das Frühstück an der Reihe. In der Nähe des Plaza de Mulas gibt es zur Wassergewinnung einen kleinen Bach (eigentlich wäre Rinnsal treffender…), der von einem Gletscher gespeist wird. Man geht am besten früh am Morgen mit einigen Flaschen und füllt seinen ganzen Tagesbedarf auf – manche Leute haben zu diesem Zweck ein kurzes Stück Gartenschlauch dabei.

Den Grossteil des Tages verbringe ich mit Ronnie in der Sonne liegend und plaudernd – ich habe extra einen Espressokocher und einen Kofferradio mitgebracht, die uns bei der Akklimatisation hervorragende Dienste leisten! Eigentlich war der komplette Tag als Ruhetag geplant, aber am späten Nachmittag bekomme ich doch noch einen Lagerkoller. Ganz gemütlich mache ich mich deswegen auf in Richtung Camp Canada (4.900m), das ich auf einem relativ steilen Serpentinenweg nach 2,5 Stunden erreiche.




Mein Zelt am Plaza de Mulas

Los Poderosos!

Manchmal gewinnt der Sturm...

Abends werde ich in das Ritual der argentinischen Jugend eingeweiht: Mate Tee. Ein Gefäß mit Teeblättern wird mit heißem Wasser aufgegossen und mit einer Art Strohhalm ausgetrunken – dieses Gefäß macht dann kontinuierlich die Runde wobei bei jeder Person Wasser nachgefüllt wird. Geschmacklich hat mich das ganze nicht wirklich überzeugt, dafür war es aber urgemütlich mit den Trägern, Köchen und Betreuern zusamenzusitzen. Die meisten Arbeiter am Plaza de Mulas machen in Mendoza eine Ausbildung zum Bergführer und verdienen sich während der Bergsteigersaison ihr Geld mit der Arbeit in den Basislagern...

Meine Isomatte hat über Nacht wieder ihre Luft verloren! Eine genauere Untersuchung bringt zu Tage, dass sie viele haarkleine Löcher hat aus denen auch nur dann merklich Luft austritt wenn man in ihrer Nähe die Matte zusammendrückt. Ich flicke so viele Löcher wie ich finden kann und hoffe, dass meine Isomatte jetzt wenigstens einige Stunden hält… Heute werde ich eine weitere Akklimatisationstour auf den Colle Bonete (5000m) unternehmen – mein erster Gipfel! So komme ich wenigstens mit einem Gipfel nach Hause, falls es mit dem Cerro Aconcagua nichts wird. Anscheinend ist der Colle Bonete unter den anderen Bergsteigern nicht sehr begehrt, weil ich den ganzen Tag keine Menschenseele treffe. Der Weg führt am Hotel Refugio vorbei, das eine halbe Stunde vom Plaza de Mulas entfernt ist. So nutzte ich die Chance auf ein Schnitzel in Brotscheiben (6 U$) und eine Cola – am Plaza de Mulas gibt es übrigens besseres Essen.




Hotel Refugio (4.200m)

…ebenso …

…und TT-Schläger nicht vergessen!!!

Vom Hotel aus benötige ich für den Aufstieg zum Gipfel noch 3 Stunden – allerdings in einem ganz gemütlichen Tempo: ich bin immer noch bei der Akklimatisation und möchte mich deswegen so wenig wie möglich verausgaben. So komme ich relativ ausgeruht am Gipfel an und genieße den Ausblick auf die Aconcagua-Route. Drei Hochlager werde ich noch aufbauen und in ungefähr 5 Tagen meinen ersten Gipfelversuch unternehmen. Ich bleibe möglichst lange auf dem Gipfel, um mich auf dieser Höhe zu akklimatisieren. Mein Zustand macht mir Mut: bis auf ein leichtes Kopfweh, etwas Übelkeit und einen etwas schnelleren Atem fühle ich mich ausgezeichnet! Eigentlich könnte ich morgen in das nächste Hochlager aufsteigen… Allerdings habe ich noch kein Material hoch getragen: na, das wird wohl die Beschäftigung des nächsten Tages sein!

Genau so ist es auch. Allerdings kommt ein Schlechtwettereinbruch und noch während ich die Sachen für die drei Hochlager in einem Ortlieb-Beutel verstaue fängt es zu Schneien an! Trotzdem mache mich auf den Weg zum Camp Canada (4.900 m). Der Schneefall ist mittlerweile so stark, dass die Sicht nur wenige Meter beträgt. Hervorragend: den Berg habe ich jetzt für mich alleine! Nach 2,5 relativ anstrengenden Stunden mit dem Gepäck erreiche ich Camp Canada. Ich deponiere meinen Beutel und marschiere sofort wieder zurück in das Basislager – zum Rumsitzen ist das Wetter einfach zu unangenehm.  

6. - 7. Tag: Aufstieg zum Camp Canada (4.900m) und Transport von Material nach Nido de Condores (5.300m)

Ich werde mein Zelt abbauen, nicht benötigte Ausrüstung bei Rudy Parra in Verwahrung geben und mit dem Zelt ins Camp Canada aufsteigen. Chango’s Freund Rodriguez hat mittlerweile die Heimreise angetreten und Chango fragt mich, ob ich mit ihm gemeinsam die Hochlager machen will. Vor allem mein Zelt ist für Stürme im letzten Lager sicherlich besser geeignet als sein eigenes. Warum eigentlich nicht? Da das gleich auch für Ronnies Zelt zutrifft, biete ich beiden an, im letzten Lager in meinem Zelt zu übernachten. Deshalb lässt Ronnie sein Zelt gleich ganz unten im Basislager, damit wir weniger Gewicht haben. Allerdings wollen wir flexibel bleiben für den Fall, dass wir unterschiedliche Strategien wählen. Den Gipfel wird jeder in seinem eigenen Tempo versuchen, weil die Wahrscheinlichkeit, dass wir alle drei den Gipfel erreichen nur 6% beträgt (0.4*0.4*0,4=0.064).

Chango hat ein zweites Zelt, das er bereits im Camp Canada aufgebaut hat. Deshalb steigt er sofort auf und wird uns später oben treffen. Vorher kann ich Ronnie noch überreden, sich mit mir eine dusche zu teilen. Save Water - Shower with a friend! Gut, im Ernst: es war einfach der Spartrieb: 1 * Duschen = 7U$, 2 * Duschen = 10U$... Ronnie muss sich außerdem noch eine neue Sonnenbrille besorgen weil er seine alte verloren hat. Fast jeder, der im Plaza de Mulas arbeitet verleiht seine Bergsteigerausrüstung: so ist es also nur eine Rennerei von Zelt zu Zelt bis man das Richtige gefunden hat… Gerade als Ronnie und ich das Zelt abbauen wollten setzt das Schneetreiben wieder ein.  Ich mache mir weniger Gedanken über den Aufstieg als über den Aufbau des Zeltes – einen Bekannten von mir hat der Sturm nämlich am Aconcagua die Zeltplane aus der Hand gerissen und weggeweht... Trotzdem bauen wir das Zelt ab, um bei einer Wetterbesserung sofort startbereit zu sein.

Erst einmal wandern Ronnie und ich aber in das Hotel Refugio, um bei einer Cola auf Wetterbesserung zu warten. Das Warten hat nicht wirklich geholfen und so gehen wir zurück in den Plaza de Mulas und trinken Mate-Tee. Auch um 17:00 Uhr ist das Wetter noch nicht besser geworden, hat sich aber auch nicht verschlechtert – vor allem der Luftdruck ist schon seit Stunden stabil. Deshalb entscheiden wir uns für den Aufstieg und erreichen nach 2,5 anstrengenden Stunden Camp Canada. Allerdings ist der Wind ist nicht so stark dass der Aufbau des Zeltes ernsthafte Probleme bereiten würde. Das Wetter hat aber umgeschlagen und in der Nacht sinkt das Thermometer auf -15° C. Ich habe auch im Plaza de Mulas erst in den frühen Morgenstunden einschlafen können, aber diese Nacht bleibe ich total wach. Wie wird das erst in den höheren Lagern werden? Das nächste Mal nehme ich auf jeden Fall Schlaftabletten mit…




Camp Canada (4.900m)

… zoom …

…Ronnie und Chango beim Schnee schmelzen

Völlig erschlagen wache ich am nächsten Morgen auf und erhole mich beim Frühstück mit Fertignudeln, zwei heißen Tassen Suppe, Keksen und Salami. Heute werden wir Changos Zelt im Lager Nido de Condores (5.300m) aufbauen und einen Teil unserer Ausrüstung deponieren. Es herrscht wieder gutes Wetter und dementsprechend viele Expeditionen nutzten die Gelegenheit, ihre Ausrüstung über die schneebedeckten Serpentinen in die Hochlager zu tragen. Der Aufstieg mit ca. 20 kg fällt mir in dieser Höhe wirklich schwer und genau an der 5000 Meter Marke, am Lager Cambio de Pendiente (Camp Alaska), legen wir die erste Rast ein. Von hier aus hat man eine freie Sicht auf den Cerro Aconcagua und tatsächlich hat sich der schweizer Erstbesteiger Matthias Zurbricken dem Bergrücken folgend zum Gipfel hochgearbeitet. Allerdings wird diese Variante nicht mehr begangen, weil sie dem Wind gänzlich ungeschützt ausgesetzt ist. Die derzeitige Normalroute quert diesen Bergrücken zum Lager Nido de Condores, das auf ungefähr 5.300 Meter (die Höhenangaben schwanken zischen 5.300m und 5.600m) etwas windgeschützter auf der anderen Seite des Grates liegt.

Nach 4 Stunden Gehzeit vom Camp Canada erreichen wir – total erschöpft – Nido. Der Aufbau von Changos Zelt erfordert in dieser Höhe unsere letzten Kräfte. Anfangs dachte ich daran, nach getaner Arbeit noch einen Akklimatisationsmarsch in das nächste Hochlager Berlin zu unternehmen, aber davon kann jetzt keine Rede mehr sein!!! Es geht mir wirklich schlecht, die Schmerzen in meinem Kopf nehmen ständig zu und die unrhythmischen Bewegungen beim Zeltaufbau lassen mich total außer Atem kommen. Chango und Ronnie steigen sofort wieder ab während ich mich noch etwas länger der Höhe aussetzen will. Ich gehe langsam im Camp umher und schütte so Wasser wie möglich in mich hinein, in der Hoffnung mein körperliches Befinden zu verbessern. Nach ungefähr einer Stunde beginne ich mit dem Abstieg: den Berg habe ich jetzt wieder für mich alleine und fast bei jedem Höhenmeter geht es mir besser.

8. Tag: Aufstieg Nido de Condores (5.300m)

In der Nacht bin ich noch einmal einige hundert Höhenmeter aufgestiegen – wer will schon um 20:00 Uhr schlafen gehen?!? Am nächsten Tag fällt mir der Aufstieg bedeutend leichter. Ich brauche nur mehr zwei Stunden nach Nido. Natürlich wird der Aufbau meines Zeltes wieder unglaublich anstrengend und hinterher benötige ich eine Rast auf meinen Schlafsack. Ich erhole mich aber nach einiger Zeit wieder und finde die Kraft um 300 Meter höher aufzusteigen. Der Rest des Tages geht mit Wasser schmelzen und Essen kochen vorüber. Im Zelt spiele ich mit Ronnie noch eine Runde Backgammon auf meinem PDA obwohl die Kälte das Display fast völlig lähmt – mein bislang höchster Sieg ;-)




Camp Alaska (5.000m)

Beim Aufstieg zu Nido (5.300m)

Nido (5.300m)

9. Tag: Aufstieg zum Refugio Berlin (5.900m)

… unzählige KLEINE Schritte verursachen GROßE Erschöpfung beim Umzug in das nächste Lager…

10. Tag: Cerro Aconcagua (6.962m)

Ich liege wach in meinem Schlafsack und döse nur sporadisch für einige Minuten ein. Von Zeit zu Zeit kontrolliere ich die Temperatur im Vorzelt: um 3 Uhr morgens hat es -14° C. Eigentlich nicht zu kalt. Allerdings rütteln orkanartige Böen an meinem Zelt: mit dem Windchill ist es zu kalt! Also weiter im alten Trott: wach liegen ..., dösen ..., wach liegen ..., Temperatur kontrollieren ..., wach liegen… Um 7:30 hat sich der Sturm etwas gelegt und ich entschließe mich meine Kleidung anzulegen und loszugehen – Ronnie will sich fertig machen und nachkommen sobald ich aus dem Zelt bin. Chango fühlt sich nicht fit genug für den Gipfel und wird wieder absteigen… Später hat er mir geschrieben, dass einer seiner Zehen etwas schwarz war: der Gipfeltag war bedeutend kälter als die Tage zuvor – mit seinem Abstieg hat er wohl seine Zehe gerettet!

Ziemlich schnell komme ich an den Piedras Blancas vorbei – der Weg ist bis hierher noch gut vor dem Wind geschützt. Sehr bald trete ich aus dem Windschatten und mit zunehmender Höhe macht sich die Kälte immer mehr bemerkbar. Ansonsten fühle ich mich den Umständen entsprechend ganz gut – langsam, mit einem gleichmäßigen Rhythmus, versuche ich meine Kräfte für die kommenden Höhenmeter zu schonen… Ronnie hat mich mittlerweile eingeholt und geht in seinem Tempo weiter. Kurz vor dem Refugio Independencia (6.300m) setze ich mich auf einen Felsen und zwinge einen Müsliriegel in meinen Magen. Ein etwas älterer Herr torkelt auf mich zu und lässt sich auf den Felsen neben mich Fallen: „Hugo“ keucht er und zeigt auf meine Trinkflasche. Ich gebe ihm gerne einen Schluck ab aber wundere mich wie weit er noch gehen will…

Einen kurzen Anstieg nach dem Refugio Independencia (6.300m) führt die Route wieder auf den Berghang, den der Erstbesteiger gewählt hat.  Hier kommt mir eine Gruppe Bergsteiger entgegen: „Hello! How are you doing?“ grüßt mich ein freudig strahlender Herr zurück.  Concratulations! When…“ will ich ihm zur Besteigung gratulieren. „No – that’s as far as I go. Good Luck!“… einige Meter weiter, am Ende des Anstiegs angekommen, wird mir klar was er meint: während der Wind bisher ziemlich unangenehm war, ist er in der ungeschützten Traverse zur Canaletta schmerzhaft! Zusätzlich fällt die gefühlte Temperatur so stark, dass ich jeweils eine Hand in der Jackentasche wärmen muss, während die andere die Eisaxt hält – bereits nach einigen Minuten ist diese Hand so ausgekühlt dass ich wechseln muss... In ungefähr 100 Meter Entfernung steht ein Felsquader, in dessen Windschatten Ronnie auf mich wartet – es sind nicht mehr die Bedingungen an denen man gerne alleine unterwegs ist!

Natürlich dauert es in dieser Höhe eine halbe Ewigkeit bis diese Distanz überwunden ist und auch im Windschatten dieses Felsquaders ist es noch beträchtlich kalt und windig. Ronnie und ich inspizieren die weitere Strecke: auf dem Rest der Traverse ist kein anderer Felsquader, der uns Windschatten bieten könnte... Schließlich entscheiden wir uns für das Weitergehen und ziehen alle verfügbaren Kleidungsstücke an. Die nächste Stunde ist ziemlich unerbaulich und mir fällt es schwer einen gleichmäßigen Rhythmus zu finden. Regelmäßig gehe ich meine Gliedmaßen durch: Rechte Zehen noch o.k.? Linke Zehen? Rechte Hand noch o.k.? Hand wechseln…

Schließlich erreichen wir die Canaletta und haben jetzt wirklich Glück mit den Bedingungen: der Wind hat sich fast vollständig gelegt und die Canaletta ist mit festgefrorenem Schnee bedeckt. Dadurch können wir die Steigeisen anlassen und müssen uns nicht im „einen Schritt vor – zwei Schritte zurück“-Rhythmus durch loses Geröll quälen. „How are you feeling?“ kriege ich inmitten meines heftig keuchendem Atems heraus. „Like a piece of shit!“ kommt die prompte Antwort von Ronnie. „Couldn’t agree more…“

Der Aufstieg in der Canaletta ist hart: mit Microschritten schieben wir unsere kraftlosen Körper Zentimeter um Zentimeter nach oben – nur um nach ein par Metern in unseren Trekkingstöcken zu hängen und nach Luft zu schnappen. Trotzdem sind wir gar nicht so schlecht unterwegs: „I am feeling like a piece of shit that might make the summit“ merkt Ronnie an, nachdem wir ungefähr ¾ der Caneletta hinter uns haben. Schließlich erreichen wir ihr Ende und kommen auf den Grat, der zum Gipfel führt. Er ist nicht mehr weit entfernt, nur noch 50 Höhenmeter sind zu bewältigen und das Wetter ist jetzt wirklich hervorragend: nichts wird uns jetzt noch aufhalten! Wir lassen unsere Rucksäcke zurück und gehen für einige Zeit am Grat entlang. Die Steigung ist bedeutend geringer als in der Canaletta, sodass der Aufstieg jetzt leichter fällt. Schließlich erreichen wir nach 8 Stunden unser Ziel!





Cerro Aconcagua (6.962m)


Obligatorisches Aussichtsphoto

2. Obligatorisches Aussichtsphoto

In der letzten Zeit haben sich bei mir Anzeichen einer beginenden Höhenkrankheit bemerkbar gemacht: deshalb bleibe ich nur ganz kurz auf dem Gipfel und mache mich auf den Abstieg. Außerdem erscheint der Gedanke reizvoll, den Gipfel im Plaza de Mulas mit einigen Bier zu feiern! Dafür müssen wir allerdings erst 2.800 m absteigen, unterwegs das Zelt abbauen und von Nido noch ein Verpflegungsdepot mitnehmen. Weil wir zu viel Gepäck³ auf einmal schleppen wollen kommen wir erst um 1:30 morgens im Plaza de Mulas an – lieber langsam und qualvoll als zwei Mal gehen ;-)

Abstieg und Gipfelfeier in Los Penientes

Ich wache um 8 Uhr auf und meine Gedanken drehen sich um die angenehmen Seiten des Lebens: Ein Bett, frische Klamotten, eine Duschen, eine gute Flasche Wein, richtiges Essen und Bier und Zigaretten. Also, nichts wie raus hier! Normalerweise muss man sein Muli für den Rücktransport einen Tag vorher anfordern, aber ich kann Rudy Parras Manager im Basislager überreden, mein Gepäck auf andere Mulis zu verteilen. Auch Ronnie findet auch noch eine Möglichkeit, sein Gepäck ins Tal zu transportieren, sodass wir gemeinsam absteigen können.




El Ronnie…

Vorher feiern wir unseren Gipfelerfolg aber noch im Restaurantzelt im Plaza de Mulas mit einem Schnitzel in zwei Brotscheiben und einer Flasche Cola. Wir sind vom Vortag zu geschafft, um diesen wunderschönen Weg genießen zu können und sind sehr froh, als wir gegen 19:00 den Parkausgang erreichen. Ronnie konnte sein Gepäck nur nach Los Penientes bringen lassen: einen Skiort mit guten Hotel, der 10 km von Puente del Inca entfernt ist. Natürlich will ich auch da hin: auf eine Nacht im Zelt ohne Dusche habe ich jetzt wirklich keine Lust mehr!

Die argentinischen Führer einer großen russischen Expedition nehmen uns mit im Bus nach Los Penientes und halten unterwegs sogar noch bei Rudy Parra an, damit ich meine restlichen Sachen mitnehmen kann. Ich muss wirklich sagen: JEDER, der irgendwie am Aconcagua arbeitet ist absolut hilfsbereit – egal ob man sein Kunde ist oder nicht! Wahrscheinlich hat auch das die Besteigung so angenehm gemacht!




Lago Horcones am Parausgang

Gipfelfeier

Los Penientes

Es ist schon relativ spät als wir im Hotel einchecken. Während ich sofort unter die Dusche springe muss Ronnie seinen Sachen vom Basislager hinterherlaufen. Niemand in Los Penientes scheint die „Firma“ zu kennen bei der er am Morgen seine Ausrüstung aufgegeben hat – Schmuggler…  Ich warte mit dem Abendessen auf Ronnie und bestelle mir das erste kühle Bier! Allerdings ist mein Rachen noch viel zu entzündet, sodass mich jeder Schluck schmerzhaft an die kalte Luft in den Hochlagern erinnert. Rotwein ist auch keine gute Idee, weil er auf den Lippen brennt wie Feuer -  beide haben wir uns einen ordentlichen Sonnenbrand zugezogen ;-) Das dreigängige Menü im Hotel ist übrigens sehr lecker, vor allem wenn es mit klarem wohltemperiertem Wasser eingenommen wird…

Epilog

Am nächsten Morgen müssen wir beide weiterziehen: Ronnie zu seinem Auslandssemester in Havanna und ich nach Aberdeen, um meine Diss zu schreiben. Mir bleiben noch ein par Tage, um Mendoza, Buenos Aires und Valpaiso in Chile zu besuchen. Im Bus nach Mendoza treffe ich zufällig auf Chango, der sich richtig übef unseren Gipfelerfolg freuen kann. Er will kein 6. Versuch mehr unternehmen sondern sich auf die anderen Berge in Argentinien konzentrieren. Ich bin mir sicher er ändert seine Meinung – es ist nämlich wirklich eine wunderschöne Tour! Und zu Hause in Aberdeen? Die Bewohner der "Free Republic of 9 Froghall Terrace" beschließen, die "Hallway" in "Avenida Libertador Helmuto (Mc)Meisel" umzubenennen.

Links

·       Aconcagua Fakten: http://www.summitpost.com/show/mountain_link.pl/mountain_id/11

·       Führer: Aconcagua: A Climbing Guide, 1999, Secor, J. und Hopkins, R., ISBN 0898866693

·       Karte: Aconcagua Map: For Mountaineers and Trekkers, 2001, ISBN 1871890691

·       Höhenkrankheit 1: Trekking und Höhenbergsteigen: Ein medizinischer Ratgeber, 1996, Hochholzer, T., ISBN 3928026119

·       Höhenkrankheit 2: Abschnitt 4 “Höhenkrankheit“ in Erste Hilfe durch Homöopathie: Ein homöopathischer Ratgeber für Praxis, Freizeit und Reise, 1997, Mateu I Ratera, M., ISBN 3929271109

Wegpunkte für die Normalroute - Horcones Valley

Wegpunkte, wie ich sie mit meinem GPS gemessen oder aus der Karte entnommen habe. Die Angaben erfolgen ohne Gewähr!

Name

Koordinaten

Höhe

Beschreibung

Normalroute

 

 

 

Guardaparques

S32° 48.600' W69° 56.500'

2900m

Rangerstation am Parkeingang

Puente Horcones

S32° 47.522' W69° 56.846'

3050m

1. Hängebrücke über den Horcones.

Camp Confluencia

S32° 45.455' W69° 58.388'

3350m

Camp auf dem Weg zu den Basislagern Plaza de Mulas oder Plaza Francia.

Piedra Grande

S32° 44.394' W70° 00.019'

3600m

Großer Stein in der Mitte des Horcones-Tals

Camp Ibanez

S32° 42.233' W70° 03.281'

3850m

Wenig frequentierter Platz zum Campen. Hier verlässt der Weg zum Plaza de Mulas das Flusstal

Plaza de Mulas

S32° 38.900' W70° 03.400'

4200m

Basislager der Normalroute

Camp Canada

S32° 38.699' W70° 02.616'

4900m

Gut geschütztes Camp kurz von Camp Alaska

Camp Alaska

S32° 38.400' W70° 02.200'

5200m

Auch Cambio de Pendiente ("Aenderung der Steigung") genannt. Nicht so windgeschützt wie Camp Canada

Nido de Condores

S32° 38.100' W70° 01.800'

5300m (?)

Weitgezogene Ebene mit mannigfaltigen Möglichkeiten zum Campen. Stark frequentiert.

Refugio Berlin

S32° 38.100' W70° 01.800'

5800m (?)

Drei große "Hundehütten" bieten Platz zum Kochen und Biwakieren (<4 Pers.). Der Platz für Zelte ist beschränkt

Piedras Blancas

S32° 38.400' W70° 01.300'

5900m (?)

Weniger genutzt als Berlin

Independencia

S32° 38.700' W70° 00.967'

6300m (?)

Verfallene „Hundehütte“ kurz vor der Traverse zur Canaletta

Cerro Aconcagua

S32° 39.217' W70° 00.750'

6962m

Gipfel

Sonstige

 

 

 

Puente del Inca

S32° 49.470' W69° 54.690'

2800m

Ausgangspunkt 10 km vor der Grenze zu Chile

Hotel Refugio

S32° 39.100' W70° 03.800'

4300m

Hotel, 30 min. vom Plaza de Mulas entfernt

Colle Bonete

S32° 39.559' W70° 05.315'

5000m

Leichter Gipfel mit guter Aussicht auf die Route zum Gipfel. 3-4 Stunden vom Plaza de Mulas.

 

¹Allerdings möchte ich an dieser Stelle zur Beruhigung des geneigten Lesers anmerken, dass meine Elbrusbesteigung letztendlich doch noch zu einem kulinarischen Highlight wurde, weil ein amerikanischer Börsenmakler seinen Bergführer angewiesen hat für „the lads“ mitzukochen und wir von Zeit zu Zeit von einer Gruppe russischer Mädchen mit leckerem Eintopf versorgt wurden…


²frei nach „Indien“, Komödie, Österreich, 1993


³ich hatte Essen und Benzin für fünf weiter Tage mitgebracht für den Fall, dass ich mich in Nido von einem gescheiterten Gipfelversuch erholen muss. Dabei könnte man in einem Tag von Nido zum Plaza de Mulas ab- und wieder aufsteigen… Außerdem hatte ich zwei 1,5 Liter Flaschen mit gefrorenem Wasser in meiner Tasche ohne es zu wissen. Also: nachdenken und nachschauen, wenn jemand anderes die Taschen packt...