Die Jahresbilanz eines Gletschers hängt dabei nicht so sehr von der Winterkälte und der Menge des Schneefalls ab, sondern vor allem von der Temperatur und Sonneneinstrahlung im Sommer. Selbst meterdicke Schneedecken können bei heißem Wetter in wenigen Wochen abschmelzen. Sobald der Gletscher aber schneefrei in der Sonne liegt, beschleunigt sich die Schmelzintensität. Der blütenweiße Schnee wirft das Sonnenlicht sehr viel stärker zurück als das darunter liegende Eis. Neuschnee reflektiert 90 Prozent der kurzwelligen Strahlung, das Eis nur 40 Prozent. Wenn dessen Oberfläche durch Rußpartikel aus der Luftverschmutzung oder durch Wüstensand eingeschwärzt ist, wird die Reflexion noch stärker herabgesetzt. So wird das einfallende Licht in Wärme umgesetzt, die auch den dicksten Eisblock in sich zusammensinken lässt.
Ein abgeschmolzener Gletscher, der an Masse und Länge verliert, bekommt von den Forschern auf der Übersichtskarte der Schweizer Alpen einen gelben Punkt verpasst. Die derzeit aktuelle Karte ist gespickt mit gelben Punkten, dazwischen zwei armselige blaue. Blau steht für einen Gletscher, der größer geworden ist. In diesem Jahr dürfte die Farbe Blau ganz verschwinden, die gelbe Gefahr das Tableau zu 100 Prozent dominieren. Prof. Martin Funk, der zum Team der Züricher Gletscherforscher gehört, rechnet mit einem drei- bis viermal heftigeren Gletscherschwund als im langjährigen Durchschnitt. "Es war das extremste Jahr, seitdem wir Messungen haben." Die Daten auf seinem Computer reichen zurück bis 1880. Demnach war 2003 der schlimmste Sommer. Funks Kollege Andreas Bauder rechnet allerdings damit, dass die Folgen dieses Hitzejahres so richtig erst in einigen Jahren sichtbar werden, denn Gletscher seien träge Systeme, die mit deutlicher Zeitverzögerung reagieren.
Welche Konsequenzen wird das beschleunigte Abschmelzen haben? Kann es uns nicht egal sein, ob mehr oder weniger Eis unsere Berge bedeckt? Das kann es nicht, denn Gletscher sind die wichtigste Süßwasserreserve in Europa. Sie sind für unsere Wasserversorgung, aber auch für die Stabilität unserer Gebirge enorm wichtig. Prof. Wolfgang Seiler, Klimaforscher in Garmisch-Partenkirchen, rechnet mit heftigen Folgen, wenn sich die Gletscher in beschleunigtem Tempo in die Höhenlagen zurückziehen:
Das Gletscherwasser wird fehlen, vor allem wenn - wie prognostiziert - in weiteren heißen Sommern die Niederschläge zurückgehen. Bäche und Flüsse könnten austrocknen, Land- und Forstwirtschaft unter der Trockenheit leiden. Auch der Grundwasserspiegel wird fallen. Viele Gebirgsregionen sind auf Gletscherwasser angewiesen, das Seen speist und Täler ergrünen lässt.
Die Niederschläge werden schneller zu Tale rauschen. Die Gletscher mit ihrer Schneeauflage wirken wie ein Schwamm, der auch stärkere Regengüsse aufsaugt. Nach dem Abschmelzen der Schneeauflage fließt der Regen "wie auf einer geteerten Fläche" (Seiler) die Hänge hinunter.
Vor allem aber gerät die sensible Stabilität unserer Berge aus dem Gleichgewicht. Der Rückzug der Gletscher verändert die Architektur der Alpen. Gigantische Eismassen, die bisher auf die Hänge drücken, sind dann verschwunden. Stark unterschnittene Hänge werden plötzlich nicht mehr vom Eis gestützt. Bergstürze sind voraussehbar. Außerdem werden Geröll und Gestein, die bisher unter den Eismassen einbetoniert waren, nach der Abschmelze frei.
Gletscherschwankungen können Menschen aber auch direkt in Gefahr bringen. 1972 drohte nach einem Querriss der Gletscherzunge am Weißhorn das Dörfchen Randa bei Zermatt von einem riesigen Eisabbruch ausradiert zu werden. Zum Glück stürzten die Eismassen in Raten herunter und verschonten das Dorf. Auch Gebirgsseen am Gletscherrand können ausbrechen, wenn Eisabbrüche Flutwellen auslösen.
Die Geschichte der Berge ist auch eine Geschichte ihrer Gletscher mit großen und kleinen Katastrophen. Gletscherbewegungen wurden in allen Warm- und Eiszeiten der Erdgeschichte beobachtet. Es gibt skurrile Geschichten darüber, wie etwa das plötzliche Auftauchen einer Leiter, die 1788 bei der Besteigung des Mont Blanc am Mer de Glace verloren ging. 44 Jahre später und mehr als 4000 Meter talabwärts spuckte sie der Gletscher wieder aus. Ebenso erstaunlich war die Flucht einer 1827 am Unteraargletscher erbauten Hütte, die bis zum Jahr 1840 auf dem Gletscherrücken exakt 1428 Meter ins Tal gewandert war. Im Vergleich dazu erscheint die gegenwärtige Situation wenig amüsant. Klimaforscher Seiler: "Wir befinden uns in einer Warmzeit und packen jetzt noch die menschengemachte Erwärmung obendrauf. Das ergibt eine Klimaveränderung, wie wir sie in diesem Tempo in einer Warmzeit noch nie gesehen haben."
Die Gletscher sind die Zeugen dieser Entwicklung. Als träge Burschen haben sie sich dennoch immer wieder bewegt. Aber wohl noch nie so schnell.
Manfred Kriener
Aktualisiert: 19.09.2003, 18:08 Uhr
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