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Neues vom Gletscherschwund (Gelesen: 3101 mal)
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Neues vom Gletscherschwund
01.10.2003 um 20:39:15
 
Jetzt ist es auch bis in die Presse außerhalb der Alpin- Veröffentlichungen durchgedrungen.
Dieses Mal in die (nicht nur offiziell) neutralen Stuttgarter Nachrichten vom 13.09.

...

Klima
Der schnelle Schwund im ewigen Eis

In diesem Sommer sind die Alpengletscher stärker abgeschmolzen als je zuvor seit Beginn der Messungen


Jetzt geht er zu Ende: der heißeste Sommer seit Menschengedenken. 10000 Hitzetote allein in Frankreich, dazu verheerende Waldbrände, Dürren, Ernteeinbußen und ausgetrocknete Flüsse in ganz Europa. Selbst London meldete 38 Grad, in den Zoos röchelten die Eisbären, in Weinbaugebieten litten die sonst so sonnenhungrigen Rebstöcke unter Verbrennungsschock. In den Alpen gaben Gletscherforscher schon im Juni nach ersten Inspektionen Alarm. Vergeblich hatten sie auf die Schafskälte gewartet, die im Frühsommer in den Höhenlagen noch einmal für Schneenachschub sorgt. Stattdessen Bullenhitze ohne Ende. Schon im Mai war bei einigen Gletscherzungen die schützende Decke des Winterschnees abgeschmolzen. Das Eis lag ungeschützt in der Sonne. Wenn jetzt auch noch Juli und August heiß werden, so warnten die Wissenschaftler Ende Juni, dann könne selbst das Katastrophenjahr 1947 übertroffen werden.

Der August kam und brachte neue Hitzerekorde. Der Frankfurter Wetterdienst registrierte in Freiburg 24 Tage mit Temperaturen von mehr als 30 Grad. Das ewige Eis erwies sich als gar nicht so ewig und schmolz im Rekordtempo dahin - nicht nur an der Oberfläche. An den Rändern der Gletscher taten sich tiefe Kavernen auf. Wie Höhlenforscher kletterten die Glaziologen mit Lampen und Kameras unter Tage, um den Schwund zu dokumentieren: schaurig- schöne, löchrige Eisberge. Unten erschreckten die Hohlräume, oben war alles wie von einer dunklen Haut überzogen. Eingeschlossener Ruß, Dreck und Staub aus den abgeschmolzenen Massen hatten sich angereichert und das Eis verfärbt. Wund und schwarz wie ein verletztes Tier lagen die Gletscher in der Sonne. Der Verlust ihrer Eis- und Schneemassen war auch für Laien mit dem bloßen Auge erkennbar.

Jetzt ist die Stunde der Wahrheit gekommen. Immer im September wird an den Alpengletschern Maß genommen. Unter der Ägide der Glaziologen der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich werden in der Schweiz 100 Gletscher vermessen, um das Ergebnis am Jahresende vorzustellen - ein festes Ritual. Mit Laser gesteuerten Distanzmessern, aber auch mit dem Maßband gehen die Wissenschaftler und ihre 80 Helfer ran an die Gletscherzunge, um festzuhalten, wo noch Eis ist und wo schon der Schutt beginnt. So wird die Länge der Eisriesen ermittelt. Bei drei ausgewählten Gletschern (Gries-, Basodino- und Silvrettagletscher) wird außerdem die Dicke gemessen, um eine Massenbilanz aufzustellen. Die Ergebnisse der Messreihen waren schon in den vergangenen Jahren, auch ohne Jahrhundertsommer, beunruhigend. Die Alpengletscher, Schlüsselindikator für den Klimawandel, hatten Mitte des 19. Jahrhunderts ihren letzten Hochstand erreicht. Seitdem schwinden sie, unterbrochen von kurzen Phasen leichter Erholung. Seit den 80er Jahren ist ihr Rückzug dramatischer denn je. Im Schnitt der letzten 150 Jahre sind die Gletscher nicht nur kürzer, sondern jährlich auch einen halben Meter schlanker geworden. In diesem Jahr rechnen die Forscher mit bis zu zwei Meter Dickeverlust. Die größten Gletscher sind mehrere hundert Meter dick.

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Neues vom Gletscherschwund (Teil 2)
Antwort #1 - 01.10.2003 um 20:40:12
 
Die Jahresbilanz eines Gletschers hängt dabei nicht so sehr von der Winterkälte und der Menge des Schneefalls ab, sondern vor allem von der Temperatur und Sonneneinstrahlung im Sommer. Selbst meterdicke Schneedecken können bei heißem Wetter in wenigen Wochen abschmelzen. Sobald der Gletscher aber schneefrei in der Sonne liegt, beschleunigt sich die Schmelzintensität. Der blütenweiße Schnee wirft das Sonnenlicht sehr viel stärker zurück als das darunter liegende Eis. Neuschnee reflektiert 90 Prozent der kurzwelligen Strahlung, das Eis nur 40 Prozent. Wenn dessen Oberfläche durch Rußpartikel aus der Luftverschmutzung oder durch Wüstensand eingeschwärzt ist, wird die Reflexion noch stärker herabgesetzt. So wird das einfallende Licht in Wärme umgesetzt, die auch den dicksten Eisblock in sich zusammensinken lässt.

Ein abgeschmolzener Gletscher, der an Masse und Länge verliert, bekommt von den Forschern auf der Übersichtskarte der Schweizer Alpen einen gelben Punkt verpasst. Die derzeit aktuelle Karte ist gespickt mit gelben Punkten, dazwischen zwei armselige blaue. Blau steht für einen Gletscher, der größer geworden ist. In diesem Jahr dürfte die Farbe Blau ganz verschwinden, die gelbe Gefahr das Tableau zu 100 Prozent dominieren. Prof. Martin Funk, der zum Team der Züricher Gletscherforscher gehört, rechnet mit einem drei- bis viermal heftigeren Gletscherschwund als im langjährigen Durchschnitt. "Es war das extremste Jahr, seitdem wir Messungen haben." Die Daten auf seinem Computer reichen zurück bis 1880. Demnach war 2003 der schlimmste Sommer. Funks Kollege Andreas Bauder rechnet allerdings damit, dass die Folgen dieses Hitzejahres so richtig erst in einigen Jahren sichtbar werden, denn Gletscher seien träge Systeme, die mit deutlicher Zeitverzögerung reagieren.

Welche Konsequenzen wird das beschleunigte Abschmelzen haben? Kann es uns nicht egal sein, ob mehr oder weniger Eis unsere Berge bedeckt? Das kann es nicht, denn Gletscher sind die wichtigste Süßwasserreserve in Europa. Sie sind für unsere Wasserversorgung, aber auch für die Stabilität unserer Gebirge enorm wichtig. Prof. Wolfgang Seiler, Klimaforscher in Garmisch-Partenkirchen, rechnet mit heftigen Folgen, wenn sich die Gletscher in beschleunigtem Tempo in die Höhenlagen zurückziehen:

Das Gletscherwasser wird fehlen, vor allem wenn - wie prognostiziert - in weiteren heißen Sommern die Niederschläge zurückgehen. Bäche und Flüsse könnten austrocknen, Land- und Forstwirtschaft unter der Trockenheit leiden. Auch der Grundwasserspiegel wird fallen. Viele Gebirgsregionen sind auf Gletscherwasser angewiesen, das Seen speist und Täler ergrünen lässt.

Die Niederschläge werden schneller zu Tale rauschen. Die Gletscher mit ihrer Schneeauflage wirken wie ein Schwamm, der auch stärkere Regengüsse aufsaugt. Nach dem Abschmelzen der Schneeauflage fließt der Regen "wie auf einer geteerten Fläche" (Seiler) die Hänge hinunter.

Vor allem aber gerät die sensible Stabilität unserer Berge aus dem Gleichgewicht. Der Rückzug der Gletscher verändert die Architektur der Alpen. Gigantische Eismassen, die bisher auf die Hänge drücken, sind dann verschwunden. Stark unterschnittene Hänge werden plötzlich nicht mehr vom Eis gestützt. Bergstürze sind voraussehbar. Außerdem werden Geröll und Gestein, die bisher unter den Eismassen einbetoniert waren, nach der Abschmelze frei.

Gletscherschwankungen können Menschen aber auch direkt in Gefahr bringen. 1972 drohte nach einem Querriss der Gletscherzunge am Weißhorn das Dörfchen Randa bei Zermatt von einem riesigen Eisabbruch ausradiert zu werden. Zum Glück stürzten die Eismassen in Raten herunter und verschonten das Dorf. Auch Gebirgsseen am Gletscherrand können ausbrechen, wenn Eisabbrüche Flutwellen auslösen.

Die Geschichte der Berge ist auch eine Geschichte ihrer Gletscher mit großen und kleinen Katastrophen. Gletscherbewegungen wurden in allen Warm- und Eiszeiten der Erdgeschichte beobachtet. Es gibt skurrile Geschichten darüber, wie etwa das plötzliche Auftauchen einer Leiter, die 1788 bei der Besteigung des Mont Blanc am Mer de Glace verloren ging. 44 Jahre später und mehr als 4000 Meter talabwärts spuckte sie der Gletscher wieder aus. Ebenso erstaunlich war die Flucht einer 1827 am Unteraargletscher erbauten Hütte, die bis zum Jahr 1840 auf dem Gletscherrücken exakt 1428 Meter ins Tal gewandert war. Im Vergleich dazu erscheint die gegenwärtige Situation wenig amüsant. Klimaforscher Seiler: "Wir befinden uns in einer Warmzeit und packen jetzt noch die menschengemachte Erwärmung obendrauf. Das ergibt eine Klimaveränderung, wie wir sie in diesem Tempo in einer Warmzeit noch nie gesehen haben."

Die Gletscher sind die Zeugen dieser Entwicklung. Als träge Burschen haben sie sich dennoch immer wieder bewegt. Aber wohl noch nie so schnell.

Manfred Kriener
Aktualisiert: 19.09.2003, 18:08 Uhr

Zum Original- Beitrag: http://www.stuttgarter-nachrichten.de/stn/page/detail.php/507630
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