Sonnenuntergang
Der Tag neigt sich dem Ende. Die Sonne strebt ihrem tiefsten Punkt entgegen um dann hinter dem sich inzwischen leicht bunt zu färben beginnenden Wald zu verschwinden. Wir sitzen, das Abendessen ausklingen lassend, auf dem Balkon. Sonnenuntergang? Ein Blick wird gewechselt und beide wissen wir Bescheid. Blitzschnell werden stechmückenfeste Hose, T-Shirt u. wärmerer Fleece übergestreift, Socken und geländefeste Schuhe geschnappt und los geht’s. Wohl ist es tagsüber noch recht warm – an die 25 Grad hatte es heute, aber wenn die Sonne verschwindet wird’s vermutlich kühl.
Trotz der Eile ist auf den unebenen Waschbetonplatten bis zum Gartentor Vorsicht geboten. Der weitere Weg führt links zwischen ruhigen Hausgärten hindurch, wo einmal eine Katze vor einem Mausloch sitzt, ein Hund vorbeikommende Fußgänger belauert oder ein Brunnen plätschert. Gefahr droht uns in der Gasse Richtung Wald: Tretmine! (stengellose alpina Hundfladia) Das hohe trockene Gras am Waldrand beherbergt Stechmücken und anderes krabbelnde Getier. Es ist sehr trocken, deshalb ist ein Zeckenangriff eher unwahrscheinlich.
Nun beginnt der gefahrvolle Abstieg. Die Hinweistafel zur Burgschenke links liegen lassend, machen wir uns besonnen und jeden Tritt konzentriert setzend auf den ca. 200m langen Weg unserem Ziel entgegen. Ganz nebenbei wundere ich mich still über das schwere Handgepäck meines Partners. Was hat dies zu bedeuten? Den Höhenunterschied von ca. 30 Metern überwinden wir ohne weitere Zwischenfälle. Der Wald öffnet sich und die erste Brücke über den gefahrvollen Abgrund ist zu überwinden. Die Geländer links und rechts geben uns Sicherheit, tief unter uns: das berühmte Häuschen mit dem Herz in der Tür.
Ein kleines Zwischenstück gepflasterter Weg und erneut eine Brücke. Unser Blick geht wieder etwa 5 Meter in die Tiefe in den alten furchterregenden Burggraben. Endlich haben wir den Vorhof der Ruine erreicht. Die alten verwitterten Gemäuer schauen auf uns herab.
Die letzen Meter über unebenes, nun wegloses Gelände, bringen wir achtsam hinter uns und endlich stehen wir vor der Burgmauer und schauen hinab. Unser Blick geht sehnsuchtsvoll zum Horizont. Die Sonne ist untergegangen – ohne uns! Enttäuschung. Der ganze lange Weg umsonst! Ein endlos erscheinender, zehn minütiger anstrengender und Kraftraubender Fußmarsch und kein Sonnenuntergang!
Aber nun des Rätsels Lösung. Aus dem schweren Handgepäck meines Partners zaubert dieser den Inhalt hervor. Mir stockt der Atem. Eine Flasche Sekt, ein weißes Tischset, zwei Sektgläser, ein Tee-Windlicht. Zwei Sitzkissen. Ein wohlmeinender Mensch hat hier Biertischgarnituren für uns stehen gelassen. Welch ein Luxus.
Die Aussicht weit übers Tal hinaus, die Abendstimmung über der Stadt und das kühle köstliche Nass trösten uns darüber hinweg, dass wir zu spät gekommen sind. Die Stadt tief unter uns liegt ruhig und zufrieden da. Ein ICE schlängelt sich durch das Tal und gewinnt dabei langsam aber steig an Höhe.
Langsam senkt sich die Dunkelheit übers Tal, die ersten Lichter leuchten auf. Bis fast zehn Uhr brauchen wir, um die Flasche zu bewältigen. Ein Kraftakt. Nur gut, dass wir die warmen Jacken haben. Dann machen wir uns auf den langen, mühsamen Anstieg heimwärts. Aus dem Gebüsch kommt rascheln und leichtes Gekrächze. Die Tiere des Waldes wundern sich über die späten Wanderer. Ein Käuzchen schreit. Eine Katze beäugt uns misstrauisch, sie hat es sich unter einem Auto bequem gemacht. Der Brunnen des Nachbars plätschert immer noch.
Der Bewegungsmelder reagiert und begrüßt uns an der Haustür. Heil und unverletzt nach gefahrvoller Exkursion wieder zu Hause angekommen versinken wir alsbald in einen seligen Tiefschlaf.
PS: selbstverständlich wurde das Leergut wieder mit nach Hause genommen; mußte keiner der Teilnehmer nachher Auto fahren; wurde der Platz wieder so verlassen, wie er angetreten wurde.